12. Juli 2006

Werwolf

Über den kahlen Bäumen des Parkforsts lag eine frostklare Winternacht. Eine junge Frau stand fröstelnd auf einer der schneebedeckten Lichtungen. Als in der Ferne die Turmuhr zwölfmal schlug, kuschelte sie sich enttäuscht in ihren roten Mantel und verließ die Lichtung. Sie eilte über die sauberen Kieswege und bog in einen der vielen Trampelpfade Richtung Altstadt ein.
Tausend Gedanken flogen ihr durch den Kopf. Vielleicht hatte sie sich alles nur eingebildet: »Wahrscheinlich war es doch nur einer von den vielen Straßenkötern, die nachts die Gassen durchstöbern«.
Eine weiße Dunstwolke bildete sich vor ihrem Mund. Sie seufzte und blieb stehen. Ihre Augen suchten den Mond, der hinter der schwarzen Silhouette einer Fichte hervorlugte und sein spärliches Licht auf dem schmalen Pfad tanzen ließ. Ob es wirklich schon Vollmond war?
Plötzlich lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Irgendetwas war dort im Dunkel der Bäume. Sie spürte es in jedem ihrer sich sträubenden Nackenhaare. Sie starrte in die Finsternis. Aus dem Schatten lösten sich die Umrisse zweier rot glühender Augen.
Erleichtert atmete sie auf. Wie sehr hatte sie diese Augen vermisst ! »Musst du mich immer so erschrecken ?« fragte sie mit zittriger Stimme. Als er aus dem Schatten schritt, kniete sie sich aufgeregt hin und umarmte die Wolfsgestalt.
Er schloss die roten Augen, rieb seine Schnauze an ihrem Hals, während sie sein schwarzes Fell streichelte. Seine Zunge berührte ihre Haut. Instinktiv biss er vorsichtig zu. Erschrocken riss sie sich los, fiel lautlos hin und kauerte sich zuckend unter ihren Mantel. Er kniff den Schwanz zwischen die Beine und winselte.
Als sie ihre weiße Schnauze unter dem Mantelsaum hervorsteckte, bleckte sie die Zähne: »Verdammt noch mal! Hättest du nicht warten können?«.
Wild zerriss sie mit ein paar kräftigen Bissen ihre Jeans und befreite ihre Hinterpfoten. Ihr weißes Fell sträubte sich: »Weißt du eigentlich, wie bescheuert es aussieht, wenn ein Wolf mit zerrissenem Slip, BH, einer Handtasche und Stöckelschuhen im Maul durch die Altstadt rennt ?« Ihr Knurren verhallte im Wald.
Unterwürfig half er ihr die zerrissenen Sachen zu vergraben. Den restlichen Weg über versuchte er, sie mit treuem Dackelblick zu besänftigen. Eigentlich war sie gar nicht mehr wütend. Er hatte sie keinen Vollmond sitzen lassen. Sogar läufige Rasse-Huskies hatte er ihr gegenüber verschmäht, was sie ihm sehr hoch anrechnete und bevor sie den Wald verließen, gab sie ihm mit ihrer kalten Schnauze einen feuchten Kuss.
Am nächsten Morgen erwachte sie in ihrem Bett. Es war feucht und das Laken war zerrissen. Weißes und schwarzes Wolfshaar hatte einen grauen Belag auf dem Bettzeug gebildet. Als sie aufstand, ließ sie die Vorhänge verschlossen. Sie tappte im Halbdunkel zum Kühlschrank. Nachdem sie ihn geöffnet hatte, zerriss sie eine Folienpackung und schlang ein rohes Steak fast im Ganzen herunter. Sie schaute auf ihre blutigen Finger. Jetzt erst bemerkte sie, dass sie ihre menschliche Gestalt wieder hatte. Verwirrt schaltete sie das Licht an. Die Wohnung war leer. Er hatte sie wieder verlassen. Sie lief zur Tür. Ihr war klar, dass er nicht mehr da war, aber vielleicht …
Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, er hatte ihr an der Katzentür des früheren Besitzers eine Botschaft hinterlassen. Sein Revier markiert ! Sie schloss die Augen. Jedes einzelne Molekül durchströmte ihre Sinne. »Ewige Liebe!«
Sie seufzte. Eigentlich wusste sie gar nicht, wie er wirklich aussah. Nicht mal seine Augenfarbe.
Nur eines wusste sie noch, dass sie, wenn sie jetzt zum Schlachthof ging, ihn treffen konnte, wenn er Reste für seinen angeblichen Hund holte. Aber vielleicht wollte sie ihn gar nicht als Mensch sehen. Sie würde lieber bis zum nächsten Vollmond warten, ihn zur Jagd auffordern. Und dann würde sie ein frisch erlegtes Brautgeschenk von ihm bekommen, wie bei ihrer ersten Nacht mit ihm.
Ein kalter Schauer riss sie aus ihren Träumen. War das wirklich sie ? Als sie sich das Blut von den Fingern wusch und versuchte den dünnen weißen Pelz auf ihrer Haut zu entfernen, bemerkte sie, dass ihre Eckzähne schon wieder ein Stück gewachsen waren.
Da erkannte sie, dass sie schon bald nicht mehr auf Vollmond würde warten müssen.

Gefunden unter: http://www.erotische-literatur.de/prosa/werwolf.shtml

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